Exkurs 7 zu Sintflut und Geologie (3. Aufl.)

Zu den Textgruppen des Pentateuch (5 Bücher Mose) und den Stammbäumen der Urgeschichte (Gen 5 und 11)

Die Redeweise von unterschiedlichen „Texten“ kann bei Außenstehenden zu Irritationen führen. Denn es gibt nur einen Text des Alten Testaments; in verschiedene Abschriften sind allerdings infolge Jahrhunderte langer Abschreibetätigkeit „auch typische Schreib-, Hör- und Lesefehler“ eingedrungen. „Beim Abschreiben kam es zu ungewollten Textänderungen“1, die aber zumeist für das Textverständnis wenig bedeutsam sind (s. u.). Zudem ist der originale Text in der Regel gut rekonstruierbar. Bibelhandschriften, die ein ziemlich einheitliches Gepräge aufweisen, werden einer bestimmten Textgruppe zugeordnet. Man unterscheidet drei Textgruppen (s. u.); sie haben sich schon in vorchristlicher Zeit herausgebildet. Denn auch unter den Bibeltexten aus dem 1. und 2. Jahrhundert v. Chr., die seit 1948 in Qumran am Toten Meer gefunden wurden – sie gehören zu den ältesten Handschriften des Alten Testaments, die man kennt –, lassen sich nach Würthwein bereits drei Textgruppen nebeneinander beobachten. Davon steht eine dem Samaritanischen Pentateuch (SAM) nahe, eine zweite der griechischen Übersetzung des AT, der Septuaginta (LXX); und die dritte ähnelt dem Masoretischen Text (MT), dem überlieferten hebräischen Text des AT (s. Sintflut und Geologie, Kap. 7.5). Über die Entstehung dieser Textformen gibt es unterschiedliche Hypothesen.2

Welche Textgruppe ist die zuverlässigste? Die Textforschung geht, grob gesehen, von folgender Rangordnung aus: 1. Masoretischer Text (MT) – 2. Samaritanischer Pentateuch (SAM) – 3. Septuaginta (LXX).3 Den anderen Textgruppen gegenüber „macht der masoretische Text einen altertümlicheren und zuverlässigeren Eindruck“, aber er repräsentiert dennoch nicht einfach den ursprünglichen Urtext4 (s. u.). Auch Dreytza et al. folgen der „bewährten Regel“, das der MT da, wo er sprachlich und sachlich einwandfrei ist, den Vorzug vor jeder anderen Textüberlieferung verdient – „es sei denn, es sprächen für diesen Einzelfall besondere Gründe“.

Der SAM weicht an ca. 6000 Stellen vom MT ab.5 Das scheint viel zu sein; doch eine große Zahl dieser Varianten betrifft lediglich Schreibregeln, ist also orthographisch bedingt, und „viele betreffen Kleinigkeiten, die den Sinn nicht beeinflussen“. Der MT steht also erfahrungsgemäß in der Rangordnung an erster Stelle, doch damit ist nicht gemeint, dass er in jedem Fall die ursprüngliche Lesart aufweist. Eine gewisse Vorstellung von der Komplexität der Frage nach den ursprünglichen Lesarten kann man gewinnen, wenn man bedenkt, dass der SAM zusammen mit der LXX in ungefähr 1900 Fällen gegen den MT übereinstimmt. Auch in den Textfragmenten von Qumran gibt es Übereinstimmungen des SAM mit der LXX gegen den MT.6

Die Diskussionslage zu den Alterszahlen der Patriarchen in den Genealogien von Gen 5 und 11, wobei MT, LXX und SAM voneinander abweichen, wäre nur anhand einer umfangreichen Monographie zu überblicken. Beispielsweise Hieke spricht von einer „Flut von Deutungsversuchen“.7 Dazu kann nicht näher Stellung genommen werden. Es wird hier nur versucht, anhand von Kommentaren einige Hinweise auf Positionen in der Diskussion zu geben:8

Beim Stammbaum von Adam bis Noah (Gen 5) scheint es eine Tendenz zugunsten der Jahreszahlen des MT oder des SAM zu geben, möglicherweise mit einem Übergewicht für den SAM.9 Doch sind die Exegeten oft davon beeindruckt, dass im MT die Zeitspanne von der Schöpfung bis zum Auszug Israels aus Ägypten 2666 Jahre beträgt, also 2/3 von 4000 Jahren. Letztgenannte Zahl wird dann als Weltzeit seit der Schöpfung angenommen, die angeblich den anderen Jahreszahlen zugrunde liegen solle; aber das ist spekulativ.10 Die Zahlen der LXX scheinen hauptsächlich von manchen älteren Auslegern bevorzugt worden sein.11 – Beim Stammbaum von Noah bis Abraham (Gen 11) scheint eher für MT als für SAM votiert zu werden12; vgl. Seebass, der selbst allerdings hier der LXX zuneigt.13

Was die Deutung der Jahreszahlen in den Genealogien von Gen 5 und 11 betrifft, sei hier nur das Resümee von Hieke zitiert: „Insgesamt ist es jedoch heute nahezu unmöglich, einen Universalschlüssel in Gestalt einer mathematischen Formel für alle Zahlen zu finden“.14


1 Dreytza et al., Studium (2002), 38; vgl. Würthwein, Text (1988), 118-122.
2 Vgl. z.B. Würthwein, Text (1988), 18f.
3 Würthwein, Text (1988), 125; Dreytza et al., Studium (2002), 57.
4 Würthwein, Text (1988), 19.
5 Dreytza et al., Studium (2002), 56 (Zitat); 48.
6 Würthwein, Text (1988), 54 (Zitat); 77.156.164; Dreytza et al., Studium (2002), 48.
7 Hieke, Genealogien (2003), 77; vgl. 77-80.
8 Zusätzlich wurden die Monographien von Rösel, Übersetzung (1994) und Hieke, Genealogien (2003) herangezogen.
9 Vgl. bei Delitzsch, Genesis (1887), 137f.; Gunkel, Genesis (1910), 133f.; v. Rad, Genesis (1987), 46; Seebass, Genesis (1996), 179.181f.
10 Vgl. z.B. Delitzsch, Genesis (1887), 138.237; Gunkel, Genesis (1910), 133; Zimmerli, Urgeschichte (1967), 254; v. Rad, Genesis (1987), 46; Seebass, Genesis (1996), 181; Soggin, Genesis (1997), 117f.; Hieke, Genealogien (2003), 79.
11 Literatur z.B. bei Delitzsch, Genesis (1887), 136; für eine neuere Kritik der LXX-Zahlen vgl. Rösel, Übersetzung (1994), 129-144.
12 Z.B. Delitzsch, Genesis (1887), 237.
13 Seebass, Genesis (1996), 181.291f. Frühere Verteidiger der LXX nennt z.B. Delitzsch, Genesis (1887), 236.
14 Hieke, Genealogien (2003), 77f.

Nähere Informationen zu den Quellenangaben in Teil 1 und Teil 2 des Literaturverzeichnisses