Exkurs 4 zu Sintflut und Geologie (3. Aufl.)

Zum Urgeschichtsverständnis Westermanns

Die Interpretation der biblischen Urgeschichte (Gen 1-11) durch den Alttestamentler C. Westermann könnte man so zusammenfassen: Nicht historische Urgeschichte, sondern ungeschichtliches Urgeschehen. Das kommt in prägnanter Kürze in seiner Deutung der Schöpfung des Menschen in Gen 1 und 2 zum Ausdruck: „Keine der beiden Darstellungen meint eigentlich, daß Gott den (die) ersten Menschen schuf. Die Erschaffung des Menschen ist vielmehr eine urgeschichtliche Aussage, ist erfahrbarer und dokumentierbarer Geschichte jenseitig. Es ist damit gesagt, daß die Menschheit, und d.h. jeder Mensch, seine Existenz von Gott hat, nicht mehr und nicht weniger“.1

Dazu ist jedoch zu sagen: Die biblische Urgeschichte ereignete sich zwar unter mehr oder weniger andersartigen Bedingungen als alle spätere Geschichte, sie zeigt in der Tat teilweise eine andere Art von Realität; dennoch will die Urgeschichte wirkliche Realität im Sinn echter Geschichte (Historie) sein. Diese spannungsreichen Pole müssen im Sinn der Urgeschichtstexte einerseits unterschieden, andererseits zusammengehalten werden. Daraus dürfte sich erklären, dass sich bei Westermann widersprüchliche Aussagen finden: Einerseits ist für ihn die Fluterzählung „Urgeschehen, [die] nicht ein geschichtliches Ereignis darstellt“. Vielmehr sei sie „Archetyp der Menschheitskatastrophe, als solche zur Erzählung gedichtet“.2 Er deutet ihre Verbreitung unter der ganzen Menschheit demnach mit Hilfe der Archetypen, einer Kategorie C.G. Jungscher Psychologie.3 Die Sintflut sei „ein für die gesamte Menschheit grundlegender Ausdruck des „In-der-Welt-Seins des Menschen, der die Gefährdung der Menschenwelt und zugleich ihr Gehaltensein aussagt“.4 Davon abgesehen, dass auch hier wieder eine textfremde, philosophische Verstehenskategorie (des Existenzphilosophen M. Heidegger) verwendet wird5, ist die Sintflut in der biblischen Urgeschichte nicht lediglich Ausdruck bloßer Gefährdung; das wäre eine verharmlosende Ermäßigung (s.u.). Vielmehr ist sie erschreckende Wirklichkeit, weil sie die physische Vernichtung der grundböse gewordenen (Gen 6,5) und von Gewalttat bestimmten Menschheit (6,13) durch den richtenden Schöpfer bedeutet, den es „bis in sein Herz hinein bekümmert“, die Menschheit auslöschen zu müssen (Gen 6,6f.).6 – Andererseits kann Westermann schreiben: „Die Flut ist – ob auch Urgeschehen – ein Ereignis in der Zeit, ein Ereignis, das bezeugt werden kann“. Zudem stellt er heraus, „dass das Wachsen der Flut in 7,17-21.24 objektiv als Naturgeschehen dargestellt wird: ‚Da kam die Flut ... Die Wasser schwollen...’“.7 In einem programmatischen Aufsatz hat Westermann das „Urgeschehen“ dagegen wiederum „jenseits der Geschichte“ angesiedelt.8 Diese Widersprüchlichkeit resultiert einerseits aus einer letztlich unsachgemäßen Hermeneutik, wodurch die Urgeschichte in ein „nicht realistisches Urgeschehen“ verwandelt und damit enthistorisiert wird (s.u.). Andererseits aber erheben die Texte Anspruch auf historische Wirklichkeit, der sich Westermann als wissenschaftlicher Exeget, der den Texten verpflichtet ist, nicht völlig entziehen kann. Denn – so der ebenfalls kritische Alttestamentler Zimmerli – „die Geschichte“, die der biblische Autor schreibt, „will von ihm als Geschichte erzählt sein, die so zu nehmen ist, wie sie dasteht“.9

Gen 7,14-16 sagt über die zur Arche kommenden Landtiere: „Noach [Noah] braucht sie jedoch nicht selbst hineinzubringen (wie hätte er das auch vermocht!), vielmehr nur bei sich in der Arche gastlich aufzunehmen; die Land- und Lufttiere stellen sich ganz von selbst ein, gleichsam von Gottes unsichtbarer Hand geführt“10 (s.o.). Es ist ein Ausweichen vor dem Wirklichkeitsanspruch der Urgeschichte, wenn Westermann urteilt, dass der Text „nicht realistisch zu schildern beabsichtigt“; vielmehr rede er hier „theologisch“.11 Das ist eine Ermäßigung12; dadurch wird ungewollt die „harte“ Realität des (Ur-)Geschichts- (und Gerichts-)handelns Gottes, das der Text bezeugt, aufgelöst. Übrig bleibt eine „weiche“ theologische Interpretation.

Bedeutsam ist, dass der kritische Alttestamentler L. Ruppert trotz Sympathien für Westermanns Urgeschichtsverständnis13 schon frühzeitig hermeneutische und exegetische Bedenken dagegen erhoben hat; er kommt zu dem Resultat: Der biblische Autor „wollte tatsächlich eine ‚Geschichte’ von der Erschaffung der Menschheit an schreiben, freilich eine Geschichte Gottes mit der Menschheit.“ „Die heilsgeschichtliche Interpretation der ‚Urgeschichte’ kann also nicht durch eine rein existential-anthropologische ausgewechselt werden“.14

Zur Aussageabsicht des Buches Genesis äußern sich manche neueren kritischen Alttestamentler deutlich textgemäßer als Westermann, z.B. Schüle: „Diese relative Chronologie [der Stammbäume Gen 5 und 11], die lückenlos vom ersten Menschen bis hin zu Joseph reicht, erlaubt es, die priesterliche Genesis als Geschichtsschreibung zu betrachten. Zum anderen werden mit der Toledotformel15 aber auch die erzählenden Passagen markiert, die in diesen chronologischen Rahmen eingefügt sind und den genealogischen Fluss an einzelnen Stellen aufhalten, auf diese Weise also bestimmte Epochen (Zeit der Sintflut, Zeit der Väter) bilden“.16 Oder Witte: „Die Zeitangaben und Begriffe … unterstreichen, daß es sich um ein einmaliges Ereignis in der Zeit vor der Flut handelt“ [zu Gen 6,1-4]. „Durch die Lokalisierung und zeitliche Fixierung (11,2; 11,5b) … und die Ätiologie [= Erzählung vom Ursprung] Babels (11,9) … ist das Ereignis [nämlich Gründung Babels, Turmbau und Völkerzerstreuung] in einen festen geschichtlichen und damit begrenzten Rahmen eingebunden“. … „Die ‚Sündenfälle’ [in Gen 1-11] sind somit nicht mehr ausschließlich Beschreibungen des Menschseins, sondern auch chronologisch fixierte, einmalige Ereignisse in der Urzeit“.17

Einen anderen Charakter als die Urgeschichte haben Schöpfungstexte in nicht erzählenden Zusammenhängen.18 Das sind (neben zahlreichen anderen!) etwa Texte aus dem zweiten Teil des Jesajabuchs, viele Psalmen (vor allem 8, 19, 33, 74, 89, 104, 139, 148), Hiob 38 oder Spruchbuch 8. Hier wird oft – in manchmal sehr bildhafter bzw. metaphorischer Sprache – Macht und Ehre des Schöpfers gerühmt (vgl. Sintflut und Geologie, Kapitel 6.1.1). Solche Texte sollten keinesfalls gegenüber Gen 1 und 2 in den Hintergrund treten oder gar ausgeklammert werden. Gegenüber einer Einseitigkeit im sog. „Kreationismus“, wenn man sich (fast) ausschließlich auf Gen 1 und 2 konzentriert, wird das zu Recht immer wieder gefordert. Denn es gilt: „Erst sie alle zusammen, nicht die Schöpfungsgeschichte für sich allein, ergeben das volle Bild“, das im AT von Gott und seiner Schöpfung gezeichnet wird. So zutreffend Hafner, der dies in seiner wichtigen Arbeit zum Thema19 ebenso wie viele andere Autoren fordert.

Umgekehrt mahnt Hafner zutreffend an, es könne „nicht darum gehen, das Interesse der Urgeschichte an den Grundlagen des gegenwärtigen Lebens gegen den berichtenden Charakter der Erzählungen auszuspielen und diesen jedes berichtende Interesse abzusprechen“ (S. 343). Hafner ist zuzustimmen, dass der Schöpfungsbericht (Gen 1) „nicht nach dem heute weit verbreiteten Schema verstanden werden [darf], als wolle er eben ‚nur’ eine theologische und keine naturwissenschaftliche Aussage machen. Dieses Interpretationsschema ist dem Bericht in keiner Weise angemessen und führt zur völligen Entleerung seiner Aussagen; eine theologische Aussage, die nichts über konkrete Weltwirklichkeit zu sagen hat, ist leeres Geschwätz – und in besonderem Maße dann, wenn es dabei um die Schöpfung geht!“ (S. 350f.)

Leider gelingt es Hafner nicht hinreichend, sich für den berichtenden Charakter der Urgeschichte einzusetzen. Denn sein anerkennenswertes Bemühen um eine differenzierte Darstellung erinnert öfter an die Sprache Westermanns, dessen „Hermeneutik des Urgeschehens“ er sich anschließt (343f., 352f., 356). Weil bei Hafner der „berichtende Charakter der Erzählungen“ im Anschluss an Westermann letztlich doch unbestimmt bleibt, kann sich in seinen Ausführungen, die über weite Strecken lesenwert sind, das urgeschichtliche Schöpfungs-, Gerichts-, Gnaden- und Erhaltungshandelns Gottes in seiner Realität nicht ausreichend und eigentlich Geltung verschaffen.20

Ergebnis: Die zahlreichen anderen Schöpfungstexte der Bibel außerhalb der Genesis sollten gründlicher gewürdigt werden (hier liegt tatsächlich ein Manko auf „kreationistischer“ Seite), sie sollten aber nicht der Berichts- bzw. Erzählform der Urgeschichte entgegengestellt werden. Das geschieht dann, wenn behauptet wird, auch die Urgeschichte wolle nichts über den wirklichen historischen Verlauf von Schöpfung und Urzeit aussagen.21


1 Westermann, Art. ´ādām Mensch (2004), 46.
2 Westermann, Genesis (1974), 541.537.
3 Vgl. z.B. Jung, Zugang (1968), 18ff. – Ruppert, Genesis (1992), 313 meint, dass man die Archetypenlehre C.G. Jungs hier nicht bemühen müsse.
4 Westermann, Genesis (1974), 531.
5 Das „In-der-Welt-Sein“; Heidegger, Sein (1967), 52ff.130ff. – Zur Rezeption philosophischer Kategorien Heideggers durch den im 20. Jahrhundert (zumindest im deutschsprachigen Raum) wohl einflussreichsten Neutestamentler R. Bultmann vgl. z.B. die kritische Darstellung von Berger, Exegese (1986), 127-176.
6 „Beim Geschlecht der Sintflut hatte sie [sc. die Gnade] keinen Raum mehr. Das Strafgericht ist voll gerechtfertigt … und unausbleiblich. Ebendies aber schmerzt den Gott der Gnade, und der Untergang seiner Geschöpfe erfüllt ihn mit Trauer. […] So ist Gott, da er den von ihm geschaffenen Menschen notgedrungen aufgegeben hat, betrübt in der Hinwendung zu seinem Herzen, weil es, anders als das Herz … der Bösewichter, Pläne des Guten und des Heils gehabt hatte. Im Sinn seines Herzens voll Liebe, betrauert er die Welt“; Jacob, Genesis (1934), 181. – Der Ausdruck des Textes „bezeugt Gottes leidenschaftliche Anteilnahme/Personhaftigkeit“; Seebass, Genesis (1996), 208. – „Gott kann über seinen Menschen nur noch Kummer, Betrübnis und Enttäuschung empfinden“; Bräumer, 1. Mose (1983), 158. – „Daß Gott die Menschen geschaffen hat, obwohl er die Perversion der Menschen als seiner Geschöpfe und damit seine spätere ‚Reue’ voraussehen musste, zeugt nicht von ‚Kurzsichtigkeit’, sondern von wahrer Größe Gottes, da er den von ihm erschaffenen Menschen die Freiheit ließ trotz der Gefahr des Missbrauchs in der Sünde“; Ruppert, Genesis (1992), 318. – Der Philosoph A. Wenzl, Metaphysik (1956), 209 drückt es so aus: „Es leuchtet ein, daß mit einer Welt der Vielheit von Wesen endlicher Sicht, beschränkten Inhalts, eigenen Willens die Möglichkeit der Disharmonie mitgesetzt ist und daß eine laufende und zwingende Führung ihr Dasein wieder aufheben würde; … solche unmittelbaren Eingriffe [Gottes] würden auch grundsätzlich nichts helfen, wenn sie nicht dauernd erfolgten und damit die Wirklichkeit wieder aufhöben.“.
7 Westermann, Genesis (1974), 529.592.
8 Westermann, Urgeschehen (1967), 243.
9 Zimmerli, Urgeschichte (1967), 163.
10 Ruppert, Genesis (1992), 346.
11 Westermann, Genesis (1974), 587. – Wenn die Schilderung des Sintflutabschnitts „nicht realistisch“, sondern „theologisch“ genannt wird, führt das ungewollt zu einer Relativierung des Realitätsbezugs der Offenbarung Gottes, die sich in der Geschichte ereignete.
12 Berger, Jesus (1995), 10 fordert, bei der Exegese von Evangelientexten (hier die Verklärung Jesu), die für die neuzeitliche Weltsicht unbequem sind, „keine Ermäßigung“ (durch Ausweichen vor ihrem provokativem Wirklichkeitsanspruch) zu betreiben, sondern sich der Aussageabsicht der Texte zu stellen, also der Konfrontation mit ihnen nicht auszuweichen. – „Mein wichtigstes Prinzip lautet: Nicht wir kritisieren den Text und rücken ihn für unsere Bedürfnisse zurecht, der Text kritisiert uns. Ich gehe von der Fremdheit der Texte aus. Je fremder ein Text in unsere Zeit hineinragt, desto anstößiger, provokanter, letztlich effizienter und sprechender kann er für uns sein. Die Fremdheit gibt ihm die Chance zur Wirkung, zum Neuen im vertrauten Alten“; Berger, Jesus (2004), 14. – Das kann man ebenso für die biblische Urgeschichte geltend machen.
13 „Somit wären [nach Westermanns Deutung] jene Erzählungen als Anfangserzählungen zeitlos, geschichtslos, also rein protologisch. Eine derartige existentiale Interpretation gewinnt den Genesiskapiteln sicher bemerkenswerte Aussagen ab“; Ruppert, Genesis (1992), 43.
14 Ruppert, „Urgeschichte“ (1979), 28.32; ähnlich Ruppert, Genesis (1992), 42-45.531f. – Ruppert (Genesis, 1992), 43 sieht einen Grund für Westermanns Interpretation darin, dass sich dieser „nur wenig für übergreifende literarische Zusammenhänge und Kompositionen“ interessiere.
15 Vgl. dazu oben Exkurs 1: Die Urgeschichte – keine historische Darstellung?
16 Schüle, Prolog (2006), 51f.
17 Witte, Urgeschichte (1998), 252f.
18 z.B. v. Rad, Problem (1971), 136-147; Zimmerli, Theologie (1972), 29ff.; Hafner, Schöpfungszeugnis (1998).
19 Hafner, Schöpfungszeugnis (1998), 343.
20 Vgl. zu Letzterem Beck, Schöpfungsglaube (1993), 69-75; Beck Universalität (1994), 161-166.231-256.299-302.
21 Vgl. Dreytza et al., Studium (2002), 82f.; Hilbrands, Schöpfungsbericht (2009), 5f.10f.

Nähere Informationen zu den Quellenangaben in Teil 1 und Teil 2 des Literaturverzeichnisses